Aspekte des Wushu


Der Ausspruch "alle Kampfkünste haben ihren Ursprung in Shaolin", dürfte jedem Kampfkunst-Interessierten geläufig sein, wenngleich dies nicht ganz zutrifft, da zahlreiche Wushu-Formen bereits Jahrhunderte vor der Gründung des Shaolin Tempels existierten, und sich auch später zahlreiche Wushu-Formen unabhängig vom Shaolin Kungfu entwickelten. Die geschichtlichen Begebenheiten des Shaolin-Tempels trugen jedoch zur Verbreitung und zum Ruhm des Shaolin Kungfu und so auch der chinesischen Kampfkünste insgesamt wesentlich bei.

In den letzten Jahren haben die chinesischen Kampf- und Bewegungskünste erneut an Popularität gewonnen. Kinoerfolge wie "Matrix" oder "Tiger & Dragon" haben das Wushu einem breiteren Publikum näher gebracht und die darin gezeigten Kampfszenen wissen selbst Nichtkampfsportinteressierte zu begeistern. Der Grund dafür ist zweifellos die ungeheure Ausdruckskraft und Ästhetik, durch die sich das chinesische Wushu auszeichnet. Die Schönheit seiner Bewegungen ist auf dem Kampfsportsektor unerreicht. Und mehr noch als bei den anderen Kampfkünsten sind beim Wushu alle Teile des menschlichen Körpers involviert. Die Gliedmaßen, der Oberkörper, der Kopf und die Augen als Ausdruck eines wachen Geistes bilden in einem ausgeklügelten, verzahnten Wechselspiel eine untrennbare Einheit. Die Bewegungen sind niemals isoliert, sondern durchlaufen stets die neun Hauptgelenke des Körpers.

Neben harmonischen Bewegungsabläufen, die den ganzen Körper mit einbeziehen, ist das Wushu aber vor allem von einer mitreißenden Ausdruckskraft geprägt, die Chinas Wushu-Ikone Cai Longyun folgendermaßen beschreibt:

Man soll in seinen Bewegungen so schnell sein wie der Wind, so schwer wie Eisen und doch so leicht wie Blätter, so weich und sanft, aber auch so kraftvoll wie Meereswellen, so stabil wie ein Berg, und doch in den Sprüngen so flink und wendig wie ein Äffchen, und beim Aufkommen so zielsicher wie eine herabstürzende Elster. Auf einem Bein stehend soll man so wachsam und ruhig sein wie ein erschrecktes Hühnchen, und auf beiden Beinen stehend so aufrecht und stolz wie eine hoch gewachsene jahrhunderte alte Kiefer; die Drehbewegungen sollen denen eines schnellen Rades gleichen und die Beugebewegungen einem angespannten Bogen, die Fäuste den Sternschnuppen und alle Hüftbewegungen denen einer Schlange ähnlich sein, weich und fließend nach außen, aber voller Kraft und Stärke nach innen. Mit den Schritten soll man gleichsam am Boden haften, aber nicht träge wirken. Die Augen als Ausdruck des Geistes sollen wie mit Strom gefüllt sein und die konzentrierte Ausstrahlung eines Adlers kurz vor dem Angriff haben.

Des Weiteren müssen 6 Aspekte bei der Ausübung des Wushu, gleich welchen Stils, angestrebt werden.

(1) "Yun", kann mit Charme, Anmut übersetzt werden, und steht für das harmonische Zusammenwirken von schnellen und langsamen, harten und weichen etc. Bewegungen, wodurch ein sehr eleganter Rhythmus, ja eine angenehme Melodie entsteht.
(2) "Qi" steht für die Essenz allen Schönen, für die Schönheit alles Lebenden, wo Qi ist, ist auch Kraft und Energie; der in China allseits bekannte Ausspruch "yi, qi, li, san zhe he yi" betont ferner das erforderliche Einswerden von Willen/Bewusstsein, Qi und Kraft.
(3) "Xing, shen", kann mit Form und Geist übersetzt werden. Die äußere Form ist die Hülle des Geistes und der Geist ist der Inhalt der äußeren Form, der besonders durch die Augen zum Ausdruck kommt.
(4) "Yang gang, yin rou", was mit Yang-Härte und Yin-Sanftheit übersetzt werden kann, besagt, dass alle Bewegungen des Wushu sowohl Yang, also harte, schnelle, aktive etc. Bewegungen, als auch Yin, d.h. sanfte, langsame, ruhige etc. Aspekte haben, Yang und Yin beeinflussen sich gegenseitig, ohne hart gäbe es kein sanft etc., so ist z.B. in der Ruhe bereits die Bewegung enthalten, die Bewegung darf äußerlich stoppen, aber der Geist des Übenden muss mit dem Qi weiterlaufen. Inneres und Äußeres müssen eins werden: "xindong, xingsui", d.h. regt sich das Herz, folgt die Bewegung.
(5) "Qu", was mit Vergnügen, Interesse übersetzt werden kann, steht für das phantasievolle Schaffen von Wushu-Formen, was insbesonders bei den Tierformen zum Ausdruck kommt. Der Übende muss versuchen einer gewissen Freude im Ausdruck gerecht zu werden.
(6) "Yi jing", kann mit künstlerischer Ausdruckskraft übersetzt werden, und setzt voraus, dass der Übende mit Herz und Gefühl bei der Sache ist, und in der Lage ist, sich in eine imaginäre Umwelt hinein zu versetzen, wie z.B. in ein imaginäres Schlachtfeld, oder in eine Szene mit einem erdachten Gegner.

Schließlich ist eine gleichermaßen körperliche und geistige Schulung unabdingbar für das richtige Erlernen der chinesischen Kampfkünste. Ohne eine ausgeglichene, aufrichtige und tugendhafte Geisteshaltung ("Wude") vermag man die wahre Essenz der chinesischen Kampfkünste nie wirklich zu erfassen. Wushu ist eben nicht nur eine sportliche Betätigung, sondern vielmehr eine menschliche Schulung, in China unter dem Ausspruch "Xiuxing yangshen" bekannt, was man mit "den Charakter schulen und den Körper kultivieren" übersetzen könnte. Jemand der mit bescheidener Grundhaltung, beständig, ausdauernd, fleißig und unter der Anleitung eines guten Lehrers kontinuierlich darum bemüht ist, Körper & Geist zu schulen, und sein Kungfu & seine Persönlichkeit zu vervollkommnen, wird sich ab einer gewissen Stufe des Erlernens in unangenehmen und schwierigen, gefährlichen oder sogar lebensbedrohlichen Situationen zu helfen wissen. Gleichzeitig verbessert man durch das Training auch seinen gesundheitlichen Zustand. Die Gelenke, Sehnen, ja der Körper insgesamt werden in großem Maße an Gelenkigkeit, Geschmeidigkeit, Elastizität und Stärke gewinnen. Gleichgewichts-, Energie-, Konzentrations-, Sprung- und Standvermögen werden zunehmen, das Gedächtnis und die richtige Atmung werden geschult und das vegetative Nervensystem wird positiv beeinflusst.