Shaolin


Geschichtlicher Abriss
Die Wurzeln der Shaolin Kampfkünste sind in der Provinz Henan in einem Kloster namens Shaolin am Fuße des Song-Gebirges zu suchen. Im Jahr 495 wurde der Shaolin Tempel auf Befehl des Kaisers Xiaowen (471-499) für den indischen Mönch Fotuo errichtet, um dort u. a. indische Sutras ins Chinesische übersetzen zu lassen. Im 6. Jhdt. besuchte ein weiterer indischer Mönch genannt Dhamo (Bodhidharma) den Tempel, dessen Lehren die Grundlagen einer neuen buddhistischen Strömung bildeten, und welche in China als Chan- und in Japan als Zen-Buddhismus Verbreitung fanden. Im Chan-Buddhismus wird insbesondere die Selbstschulung durch das Sitzen in Versunkenheit hervorgehoben und es wird davon ausgegangen, dass alle Wesen das Potential zur Buddha-Werdung in sich tragen.

Nun mag man sich fragen, was der Buddhismus mit Kungfu oder Wushu, wie man in China zu sagen pflegt, zu tun hat. Im Vergleich zu anderen buddhistischen Mönchen bestimmte bei den Shaolin Mönchen nicht das asketische Leben oder das Rezitieren der buddhistischen Schriften den Tagesablauf, sondern man übte sich vielmehr in der zuvor erwähnten buddhistischen Sitzmeditation, die das Erlangen der absoluten inneren Ruhe zum Ziel hatte. Dhamo sah darin den direktesten Weg, alle unruhigen Gedanken zu überwinden. Hat diese Ruhe Ihr Höchstmaß erreicht, so wird sie allgegenwärtig, bewegbar und alles wird ihr und ihrem Willen folgen. Die stundenlangen statischen Meditationsübungen sollen die Körperglieder jedoch steif gemacht haben, welche wiederum die Meditation erschwerten. So wird vermutet, dass die Mönche aufgrund dessen mit gymnastischen Übungen begannen.

Die 18 Fertigkeiten und 24 Bewegungen des Luohan-Faustkampfes gelten als die ältesten Shaolin-Übungen, die wohl ursprünglich hauptsächlich dazu dienten, einen körperlichen und geistigen Ausgleich zu den stundenlangen Sitzmeditationen zu schaffen. Bereits hier sind neben den Bewegungen aus den verschiedenen volkstümlichen Kampfstilen Chinas auch typische Tierbewegungen enthalten. Im Shaolin Kungfu ist der Einfluss der Fauna und Flora, die das Kloster umgeben, unverkennbar. In dieser anarchischen Natur mit ihrer kargen Berglandschaft den schroffen Schluchten und wilden Tieren konnte es nur von Vorteil sein, seinen Körper durch Training gegen diese rauen Lebensumstände abzuhärten. Diese rudimentären Übungen, die zunächst die Gesunderhaltung und Stärkung des Körpers, sowie die Verteidigung gegen gefährliche Bedrohungen von außen zum Ziel hatten, stellten jedoch noch lange kein wohldurchdachtes und vollständiges Faustkampfsystem dar.

Dass Shaolin Kungfu in China und mittlerweile weltweit zu einer so einzigartigen Kampfkunst werden konnte, ist im wesentlichen auf drei Umstände zurückzuführen:
(1) das kontinuierliche Erlernen, Praktizieren und Lehren von Bewegungsformen und –techniken, die, inspiriert durch diverse volkstümliche chinesische Wushu-Stile und das Imitieren von Verhaltens- bzw. Bewegungsmustern aus der Tierwelt, geschaffen worden waren, (2) das Bestreben, diese in ihrer Effektivität und ihrem Ausdruck ständig zu optimieren, und (3) einflussreiche Förderer, die das Gedeihen des Shaolin Tempels vorantrieben und als Schutzpatronen der so genannten Kungfu-Mönche fungierten.

Bedingt durch ihre geographische Lage, standen zentrale Gebiete Chinas Jahrhunderte lang im Mittelpunkt des politischen Geschehens und nicht selten wurde das Shaolin Kloster für abgedankte Generäle, unzufriedene Beamte oder andere Gesetzesflüchtlinge zum Zufluchtsort. Darunter gab es nicht wenige, die bereits vor ihrem Eintritt in die Tempelgemeinschaft, anerkannte Wushu-Kämpfer waren. Der Austausch ihrer besonderen Wushu-Fertigkeiten mit denen der anderen Mönche soll wesentlich zur Weiterentwicklung des Shaolin Kungfu beigetragen haben, und es entstanden immer mehr ausgefeilte und raffinierte Formen.

Seine Blütezeit erlebte der Tempel während der Tang-Dynastie (618-907) als etwa 1.500 Mönche dort lebten, von denen ca. 500 in verschiedenen Kampftechniken versiert waren. Als es Anfang des 7. Jhdts., in der Übergangsphase von der Sui- zur Tang-Dynastie, zu einem erbitterten Kampf zwischen Li Shimin, dem Sohn eines nordchinesischen Adligen und zugleich Begründer der Tang-Dynastie, und dem despotischen General der Sui-Dynastie, Wang Shicong kam, erließ Li ein Edikt, in dem er die Mönche darum bat, Gerechtigkeit zu suchen, den Hauptschuldigen zu fassen und den Frieden im Land wieder herzustellen. In der Schlacht bei Qianglingkou schlugen die Mönche Wang in die Flucht und retteten so das Leben von Li Shimin, der zum Dank unter anderem die Ausbildung weiterer 500 Wushu-Mönche gestattete. Unter Kaiser Li Shimin wurde das Wushu-Training intensiv vorangetrieben, was für die Entwicklung des Shaolin Kungfu sehr förderlich war. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Mönche auch dazu ermutigt, im Lande herumzureisen, und große Wushu-Meister ausfindig zu machen, mit denen sie sich austauschen konnten, oder diese sogar als Lehrer für alle Kungfu-Mönche im Tempel gewinnen konnten. Dieser Erfahrungsaustausch mit externen großen Kampfkünstlern sollte sich über Jahrhunderte fortsetzen. So lud beispielsweise auch während der Song-Dynastie (960-1279) der damalige Abt des Shaolin Tempels, Fu Ju, Experten aus mehreren Wushu-Schulen im ganzen Land zum Erfahrungsaustausch in die Tempelanlage ein.

Im Lauf der Jahrhunderte durchlief das Shaolin-Kloster im Zuge der verschiedenen Dynastien und Regierungsdevisen unterschiedliche Entwicklungen, bei denen es manchmal mehr in den Vordergrund des politischen Geschehens rückte, manchmal aber auch für längere Zeit in Vergessenheit geriet. Zu Beginn der Qing-Dynastie (1644-1911) sollte das Kloster ein letztes Mal im Zentrum der chinesischen Politik stehen, als sich die Mönche erneut als Retter in der Not bewährten, indem sie dem damaligen Kaiser Kangxi (1661-1722) das Leben retteten. Als Dank bot der Kaiser ihnen die Übernahme offizieller Stellen an. Als jedoch die Mönche dieses Angebot ablehnten, überzeugten Berater den Kaiser von der Gefährlichkeit dieser unabhängigen Wushu-Kämpfer, und er veranlasste die gesamte Tempelanlage niederzubrennen. Insgesamt wurde das Kloster im Lauf seiner Existenz dreimal von Feuer heimgesucht. Jedes mal flohen Mönche in andere Gebiete, und so kam es zur Entwicklung von unterschiedlichen, den entsprechenden Gebieten (Berge, Wasser, Flachland, etc.) angepassten Kampfrichtungen, die sich hauptsächlich in Nord- und Südstile einteilen lassen.

Was den gesamten Inhalt der Shaolin Kampfkünste betrifft, so sind diese zu facettenreich und vielfältig, als dass man sie in wenigen Sätzen beschreiben könnte. Aus den anfänglich so genannten "72 Künsten des Shaolin" – bestehend aus 36 inneren und 36 äußeren Übungen - , die ursprünglich als streng geheim betrachtet und nie an Externe weitergegeben wurden, entwickelten sich mittlerweile über 120 unterschiedliche Stile. Neben den 18 klassischen Waffen, unter denen Stock, Speer, Schwert und Säbel die Hauptwaffen darstellen, existieren insgesamt mehr als 100 unterschiedlichen Waffen.


Gottesanbeterin